Ende der 90er Jahre begleite ich ein heiliges, tibetisches Flüchtlingskind auf seiner Reise quer durch Indien zu einer Privataudienz beim Dalai Lama. In Delhi sind alle Hotels belegt und ich lande mit dem Kindermönch auf einem Zimmer, in einem Bett. Und duschen muss er auch noch ...
Die Bettwäsche ist mit asiatischen Essensresten gemustert. Ein Ventilator verteilt gleichmäßig heiße, faulige Luft. Einziger Luxus ist ein Fernsehgerät: MTV Asia in der Wiederholungsschleife. Ein drittklassiges Hotelzimmer in Neu Delhi ist denkbar unpassend für die erste Nacht mit einem Mönch. Und Tenzing Nima Tashi ist nicht irgendein Mönch sondern ein buddhistischer Rinpoche und damit einer der höchsten Würdenträger Tibets, die im indischen Exil leben. Ich begleite ihn auf dieser Reise, wir durchqueren ganz Indien, um den Dalai Lama zu treffen. In Indien ist heute Duali, indisches Neujahrsfest. Die Menschen pilgern aus allen Teilen in die großen Städte und selbst die schlechtesten Hotels sind überbelegt. In Einzelzimmern schlafen ganze Familien. Keine Wahl: Heute Nacht werde ich mir mit einem Buddha das Bett teilen.
Nima Tashi läßt sich dabei weder von mir, noch vom dritte Welt Charme Delhis stören. Er hat die Badezimmertür hinter sich geschlossen. Wasser läuft. Ich sitze auf verschmierten Bettlacken und mein Blick fällt auf seine roten Doc Martens Schuhe. Die passen bestens zum bordeauxrot seiner Robe. Ich muß schmunzeln. Der Dalai Lama und seine Anhänger kennen wirklich keine Berührungsängste mit der Mode aus dem Westen. Ich höre kein Wasser mehr. Gleich wird der Mini Mönch aus dem Bad kommen. Bestimmt möchte Nima Tashi nicht angestarrt werden und schon gar nicht von mir, einer fremden Frau. Ich klebe meinen Blick angestrengt auf die indische Moderatorin bei MTV.
„Alexandrrrrra, help!“ Nima Tashi kommt nicht, sondern ruft meinen Namen. „Alexandrrrra, come in!“ Was? Erwartet er wirklich, daß ich zu ihm ins Bad komme? Das kann nicht sein Ernst sein. Er ist ein Mönch. Ich keine Nonne. Was kann er bloß wollen? Die Situation ist brenzlig: Szenen des Mittagessens schießen mir durch den Kopf: Alle haben auf dem Boden gesessen, außer Nima Tashi. Das heilige Kind thronte über uns allen auf dem einzigen Stuhl in dem dreckigen Straßeninmbiss. „Ein Rinpoche sollte immer erhöht sitzten,“ erklärte mir Nima Tashis alter Lehrer „ Ein Ausdruck des spirituellen Respekts im Buddhismus.“ Dieser Respekt kann anstrengen: Nima Tashis Lehrer hat eine halbe Stunde lang suchen müssen um einem Stuhl für den kleinen Herrn Rinpoche zu finden, wir standen herum und hatten Hunger. Ich erfuhr auch, daß man Nima Tashi nie unaufgefordert anfassen sollte, ihm nicht einmal die Hand auf die Schulter legen darf. Und jetzt teile ich mir mit diesem Menschen ein Zimmer. Wir verbringen eine Nacht im Doppelbett, und er bittet mich zu sich ins Bad.
„Alexandrrrra?“ Schon wieder, er scheint wirklich Hilfe zu brauchen. Ich gehe ins Bad und studiere angestrengt einen Fleck auf dem Boden, als müßte ich eine Doktorarbeit über Hygiene in Delhi schreiben. „Alexandrrrra, towel please!“ Peinlich berührt schaue ich zu ihm auf. Nima Tashi steht vor mir, seine braune Haut schimmert feucht. Auf dem kahlgeschorenen Schädel sammeln sich Wassertropfen. „Give towel please!“ Er ist einfach bildschön, seine asiatisch geschwungenen Augen schauen mich von unten an. Nima Tashi lächelt und er ist nackt, splitter fasernackt, Mönch hin, Mönch her, er ist so sweet. „Towel please?“ Ich bin hin und hergerissen, möchte ihn am liebsten an mich drücken und bin versteinert zugleich. „Alexandrra, please give towel NOW!“ Ich verstehe. Ein Handtuch fehlt also. Suchend schaue ich mich um und Nima Tashi fängt an zu lachen. Er spritzt mit Wasser um sich und für einen Augenblick haben wir beide vergessen, wer wir sind, und was uns hierher geführt hat. Ohne seine Mönchsrobe ist Nima Tashi in diesem Augenblick lediglich ein sechsjähriger Junge aus Tibet. Ein Kind mit seifiger Haut und einem hellen Lachen. Ich könnte seine Mutter sein, oder seine ältere Schwester, oder … eigentlich ist das im Moment völlig egal, denn Lachen verbindet. Nima Tashi quietscht vor Vergnügen als ich beim Versuch ihm möglichst förmlich ein Handtuch zu reichen auf den schmierigen Kacheln ausrutsche.
Nima Tashi ist derzeit eines der berühmtesten tibetischen Flüchtlingskinder. Seit einem Jahr wächst er im Exilkloster Mundgod im Süden Indiens auf. Und das nicht ganz freiwillig. Bis man ihn als hohe Reinkarnation entdeckte, war Nima Tashi ein ganz gewöhnlicher Junge aus Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Mit seiner jungen Mutter lebte er in ärmlichen Verhältnissen, Vater unbekannt.
Nima Tashi erzählt von dem Tag, der sein Leben verändern sollte: „Eines Abends klopfte ein Mann an unserer Tür und wollte ins Haus. Meine Mutter hatte immer Angst vor der chinesischen Polizei. Dann hat der Mann ein Bild vom Dalai Lama durch den Türschlitz gesteckt.“ Nima Tashis Mutter öffnete die Tür, denn jeder Tibeter weiß was diese Geste bedeutet: Bilder des Dalai Lama sind verboten, der Besitz kann von den chinesischen Besatzern mit Gefängnis, Verhören und Folter bestraft werden. Das Bild des Dalai Lama zu zeigen ist unter Tibetern aber auch zum geheimen Zeichen geworden, für Buddhisten die Hilfe brauchen. Nima Tashis Mutter vertraute dem Zeichen und ließ den Mann in die kärgliche Stube, was sie sonst nie machte, weil sie sich ihrer Armut schämte. „Der Mann hat erklärt, er ist ein Mönch, der vom Dalai Lama in Indien kommt. Und er hat gesagt, ich bin als Rinpoche auserwählt worden und muß Tibet jetzt verlassen,“ erzählt der kleine Junge und hat dabei die feste Stimme eines Erwachsen.
Dann erinnert sich Nima Tashi nur noch daran wie seine Mutter versucht hatte sich zu wehren. Immer wieder klammerte sie sich an Nima Tashi, jammerte und weinte. „Ich bin doch der Einzige den sie hat,“ erinnert Nima Tashi sich. Am nächsten Morgen hatte sie ihm dann doch gut zugeredet, Mut gemacht, und ihm erklärt er solle mit dem Mann mitgehen. Nima Tashi hat bis heute nicht wirklich verstanden, warum das alles passiert ist. Er weiß nur noch, daß er traurig war, weil seine Mutter traurig war, und daß der fremde Mann ihn fest an der Hand gehalten hat, die ganze lange Reise bis an die tibetische Grenze. Nima Tashi war es nicht gewohnt so lange so fest gehalten zu werden. An der Grenze erklärte der Mann den chinesischen Soldaten er sei ein Geschäftsmann und Nima Tashi sein Sohn, der ihn heute über die Grenze nach Indien begleiten dürfe. Von dem Moment an hatte Nima Tashi nur noch Angst.
Nima Tashis Berufung zum Rinpoche ist jetzt ein Jahr her. Seitdem liegt ein Segen auf ihm, der zugleich zum Fluch wurde. Nima Tashi konnte nie wieder einfach nur der kleine Sonnenschein seiner Mutter sein. Ihn außer Landes zu schmuggeln, erschien den Mönchen im Exil die einzige Lösung, um Nima Tashi erst gar nicht in Gefahr zu bringen, denn hohen Reinkarnationen drohen in Tibet schlimmste Verfolgung und Gefängnis durch die chinesischen Besatzer. Seit nunmehr über einem halben Jahrhundert wird der Buddhismus in Tibet unterdrückt, in den Schulen darf kein tibetisch gelehrt, der Name des Dalai Lama nicht ausgesprochen werden. Mit der sogenannten Kulturrevolution in den 60ern zerstörte die chinesische Volksbefreiungsarmee fast alle buddhistischen Klöster und tötete eine Million Tibeter. Aus Protest gegen die Unterdrückung ihrer Kultur gab es seit Februar 2009 bis heute über 150 Selbstverbrennungen. Aus aller Welt gab es Proteste – Sanktionen allerdings nicht. China ist zu wichtig, als Handelspartner. Und das macht blind. China hat wohl begriffen, daß den Tibetern ihre Religion nicht auszutreiben ist und gibt sich nach außen hin gerne moderat. „Die Ausübung des Buddhismus ist als Nationalcharakteristika erlaubt und soll gefördert werden,“ heißt es in einer offiziellen Stellungnahme. Klingt ein bißchen nach Trachtenverein.
Die Wahrheit hinter der soften Fassade ist jedoch, daß der Buddhismus nur unter strengster Kontrolle ausgeübt werden darf, und das heißt die wenigen Klöster werden mit Videokameras überwacht. Von Religionsfreiheit keine Rede. Realität ist auch, daß immer noch 100 000 Tibeter in den sogenannten Umerziehungslagern gefangengehalten, vergewaltigt und gefoltert werden. Nicht ohne Grund riskieren immer noch zig Menschen ihr Leben auf der Flucht durch das Himalajagebirge und suchen beim Dalai Lama im Exil Hilfe.
Zurück in Neu Dehli im hier und jetzt: Es ist sechs Uhr Morgens und ich warte mit Nima Tashi vor dem Hotel auf den indischen Fahrer, der uns zum Flughafen bringen soll. Der Frühnebel in Delhi ist kaum vom abgasgeschwängerten Smog der indischen Metropole zu unterscheiden. Es stinkt. Es stinkt immer in Delhi, nur morgens ist das Stinken noch feucht und die Straßen leer. Der Boden ist gepflastert mit bunten Fahnen, „Happy Dua- li“ -Bannern und Flaschen. Gestern war hier der große Neujahrsfest Umzug. Nima Tashi steht neben mir und wenn ich in sein Gesicht schaue, frage ich mich wie er seine neue Heimat findet. Ob er die Berge des Himalaja vermißt? Ob ihn die Inder mit ihren bunt poppigen Hinduritualen befremden? Und dann denke ich an Nima Tashis Flucht aus Tibet, denke an die Abschiedsszene mit seiner Mutter. Ob sie ihm gesagt hat, daß sie sich nie wiedersehen werden? Nima Tashi hat mehr erlebt als viele Erwachsene. Auch wenn er es heute noch nicht in Worte fassen kann.
Nima Tashi steht ganz still neben mir und beobachtet die leere Straße. Er steht oft so da und saugt einfach alles ein, ohne Argwohn, ohne zu urteilen, bloßes Staunen. Irgendetwas hat seine Aufmerksamkeit jetzt gefesselt. Er bückt sich und kramt unter den bunten Papieren auf dem Boden eine zerknitterte Zeitungsseite mit einem Bild von einem Flugzeug hervor und hält sie mir unter die Nase. Er strahlt über das ganze Gesicht, seine Augen leuchten: „Today, aerrroplane, aerrroplane,“ Nima Tashis Lieblingswort der letzten Tage hat konkrete Gestalt angenommen. Die alten Mönche haben Nima Tashi immer wieder erzählen müssen, was ein areoplane ist: Stahlvögel, die durch die Luft fliegen, wie die Vögel am Himmel und dabei Menschen transportieren. Nima Tashi konnte nicht genug bekommen von der Idee mit einem Stahlvogel über die Erde zu schweben Und in einen dieser Stahlvögel wird er heute noch steigen, um den Dalai Lama in seinem Regierungspalast zu einer privaten Audienz zu treffen, was den wenigsten Flüchtlingen vergönnt ist. „Aeroplane, where?“ Zum erstenmal erlebe ich Nima Tashi ungeduldig. Alle Heiligkeit ist vergessen, der kleine Mönch ist ein aufgeregtes Kind. Seine Augen sind tellergroß, er klatscht in die Hände, wirbelt mit seinem Hüpfen den Dreck auf der Strasse auf und seine Mönchsrobe fliegt durch die Luft wie Marlene Dietrichs Kleid zu besten Zeiten. Sein alter Lehrer muß husten aber auch lachen. Er kann Nima Tashi nicht übel nehmen, daß er vor lauter Fliegen für einen Moment das heilige Oberhaupt der Tibeter und alle Reinkarnationen dieser Welt vergessen hat.